Die amerikanischen Wahlkämpfer stehen gerade vor einem großen Problem: Ihre mächtigste Waffe wird ihnen gerade mehr und mehr entrissen. Bei einer Konferenz für politisches Marketing in Washington konnte ich deshalb einen massiven Stimmungsumschwung der US-Wahlkampfberater spüren. Auch in Europa können wir davon etwas lernen.
Daten: Der heilige Gral amerikanischer Wahlkämpfer
Um was geht es genau? Um Daten! Im Zentrum jedes amerikanischen Wahlkampfes stehen Daten, Daten, Daten. Kein Wahlkampfteam kommt ohne Data Scientists aus, also ohne Datenwissenschaftler. Am Anfang jeder Kampagne stehen umfangreiche Analysen einer gigantischen Menge Daten, auf die wir in Deutschland nicht einmal Zugriff hätten. Neben Alter, und Geschlecht geht das weiter über das Haushaltseinkommen bis zum vergangenen Wahlverhalten, bestimmter Interessen und Vorlieben, dem Beruf, Mitgliedschaften in Vereinen und vielen, vielen weiteren Informationen zu einzelnen Wählern und Wählergruppen. Es gibt praktische Tools, die diese Daten visualisieren und Wahlkreise in Zielgruppen-Segmente zerlegen, die dann oftmals mit einem Klick über die verschiedensten Kommunikationskanäle erreichbar sind. Telefon, SMS, WhatsApp, Facebook, Webseiten, E-Mail, per Hausbesuch, Fernsehwerbung, und, und, und. Die Analyse und Arbeit mit solchen Daten zieht sich dann durch die gesamte weitere Kampagne und jeder Schritt wird damit abgestimmt.
Als ich vor einem Jahr das erste Mal eine Konferenz für politisches Marketing in den USA besucht habe, gab es damals noch immer gefühlt eine Art Goldgräberstimmung. Die Möglichkeiten der Digitalisierung hatten die US-Wahlkämpfer regelrecht berauscht und noch immer kommen ständig neue Tools auf den Markt, Daten noch besser auszuwerten oder zu vermarkten.
Datenschutz kommt auch in den USA an
Im Jahr 2019 beginnt sich der Wind aber zu drehen. Die Skandale der vergangenen Monate haben dazu geführt, dass sowohl die amerikanische Politik als auch die Öffentlichkeit deutlich kritischer geworden sind. Die Fernsehbilder eines roboterhaften Marc Zuckerbergs bei Anhörungen im US-Kongress sind auch in den USA ziemlich eingeschlagen, genauso wie beispielsweise das Stichwort Cambridge Analytica. Und, ja – auch die Diskussionen um die DSGVO in Europa wurden in den USA mehr als nur registriert. Das englische Kürzel GDPR war auf dem diesjährigen CampaignTech-Summit allgegenwärtig. Noch gibt es keinen umfassenden Datenschutz in den USA, schon garnicht bundesweit. Aber mit Kalifornien hat nun ein US-Bundesstaat einen ersten, kräftigen Anfang gemacht und für US-Verhältnisse sehr scharfe Datenschutzvorschriften erlassen. Und viel schlimmer für die US-Wahlkämpfer: Die großen Online-Dienste beginnen, ihre Möglichkeiten für politische Werbung teils dramatisch einzuschränken. Twitter hat gerade politische Ads komplett gebannt. Google hat angekündigt, das Mikrotargeting für politische Anzeigen nahezu abzuschaffen. Alle fürchten: Facebook (mit Instagram) wird folgen.
Was tun ohne Datenschlacht und Mikrotargeting?
Und dann? Was wenn dies auch nur der Anfang einer größeren Welle ist, an derem Ende die heutige regelrechte Datenschlacht und teils extremes Mikrotargeting für die Politik nicht mehr erlaubt sind? Genau diese Angst war bei der Konferenz und bei allen Gesprächen im Umfeld allgegenwärtig. Noch drehte sich die Diskussion vor allem darum, welche alternativen Kanäle dann genutzt werden könnten. Aber ganz leise kamen auch erste Stimmen auf, die gefragt haben: Müssen wir vielleicht etwas an unserer grundsätzlichen Strategie ändern?
Es fehlt die politische Message!
Das Problem amerikanischer Wahlkämpfe ähnelt dem vieler europäischer Kampagnen: Es fehlt die große politische Botschaft. Es fehlen Ideen, Vorschläge und vieles mehr. Die konkreten Wahlkampfmaßnahmen sind teilweise sogar regelrecht auf das Sammeln von Spenden beschränkt. Ein Tipp: Abonniere einmal einen E-Mail-Newsletter von verschiedenen amerikanischen Kandidaten. Außer der ständigen Aufforderung, Geld zu spenden, erfährt man da wenig über die konkreten politischen Ideen.
Auch in Deutschland fehlt uns häufig die politische Idee und konkrete Botschaften. Wir plakatieren munter unsere nichtssagenden Kandidatenplakate, posten bunte Bildchen auf Facebook (die aber eh niemand groß mitbekommt) und dreschen vor allem auf den politischen Gegner ein.
Die Lösung: Politisches Content-Marketing
Die Lösung liegt in meinen Augen langfristig darin, dass sich Kandidaten und Kampagnen-Verantwortliche wieder mehr Gedanken um die konkrete Qualität ihrer Inhalte machen müssen. Wir brauchen endlich ein echtes politisches Content-Marketing. Dies gibt es bislang weder in den USA noch bei uns in Deutschland oder Österreich. Die kommerzielle Welt hat die Macht des Content-Marketings lange erkannt. Auf einer reinen Digital-Marketing-Konferenz, die ich Ende Oktober 2019 in Boston besucht habe, war Content-Marketing allgegenwärtig. Warum lernen wir nicht davon? Wenn wir weniger Abkürzungen, sei es über die Nutzung von Daten oder den massiven Einsatz gekaufter Reichweite, nutzen können, müssen wir bessere Arbeit abliefern. Wir brauchen Inhalte, die so attraktiv sind, dass Menschen sie freiwillig konsumieren und teilen möchten. Ein Beispiel: Suchmaschinenoptimierung ist ein mächtiges Werkzeug des Content-Marketings und in der Politik nahezu unbekannt. Warum eigentlich?
Zurück zu den Wurzeln: Lasst uns Wahlkämpfe wieder politisch machen!
Ein Wahlkampf, der auf Content-Marketing basiert, wird unweigerlich viel politischer. Wir müssen dann politische Ideen, Vorschläge und Werte in den Mittelpunkt stellen und sie maximal so optimieren, dass sich Menschen dafür auch interessieren. Ich finde: Ein solcher Wahlkampf wäre nicht nur äußerst wirkungsvoll, sondern würde auch der politischen Kultur und damit unserer Demokratie gut tun. Die US-Wahlkämpfer müssen dies nun lernen. Machen wir es ihnen an dieser Stelle einmal nach – oder am besten: Lasst uns zum Vorreiter eines solchen Wahlkampfes werden!