Lieber Politiker: Warum nehmt Ihr Euch so wichtig? Um diese provokante Frage dreht sich mein heutiger Blogbeitrag. Ich stelle immer wieder fest, dass es vor allem dieser Grundfehler ist, den Politiker machen: Sie nehmen sich und ihr Amt zu wichtig. Und sie verharren in politischen Ritualen, die diese Wichtigkeit unterstreichen sollen. Oft passiert das sicherlich völlig unbewusst. Vielleicht ist es Dir ja auch schon so gegangen?
Politische Rituale
Die Politik ist heute zu einer Art Parallelwelt geworden. Sie hat mit der Welt der anderen Menschen nur noch wenig gemein – und so leben Politiker leider immer häufiger auf einer völlig anderen Spur. Ja, ich weiß – das ist harter Tobak. Insbesondere, weil viele Politiker von sich immer sagen, sie seien „nah bei den Menschen“. Aber regelmäßige Besuche vor Ort oder Betriebspraktika haben damit wenig zu tun. Das schlimme ist, dass die Politik dabei in einem Teufelskreis verhaftet zu sein scheint: Die meisten Politiker müssen erst den Lauf durch die Institutionen nehmen, um in höhere Ämter zu gelangen. Dabei werden sie in dieser Parallelwelt sozialisiert. Gleichzeitig nehmen sich bereits ehrenamtlich Engagierte die politischen Rituale „der Großen“ als Vorbild. So ist ein Kreislauf entstanden, der sich gegenseitig befeuert. Das Ergebnis trägt mit Sicherheit zur allgemeinen Politikverdrossenheit mit bei.
Ich möchte das an einigen Beispielen erläutern.
Die Sprache: Politisches Bullshit Bingo
Die politische Sprache ist für mich beinahe das größte Problem. Politiker sprechen heute in Phrasen und immer wiederkehrenden Textbausteinen. Es werden Problemfelder identifiziert und danach direkt Handlungsfelder beschrieben. Natürlich müssen die Lebensbedingungen von einer vorsorgenden Politik endlich weiterentwickelt werden. Oder sollte es vielleicht fortentwickelt heißen? Lasst uns einen Arbeitskreis gründen, und diese wichtige Frage diskutieren! Dies wird bestimmt die Daseinsvorsorge nachhaltig fördern, auch und gerade weil wir eine dauerhafte Lösung brauchen! Ein weiter so darf es nicht geben!
Ganz aktuell habe ich heute erst mehrere Facebook-Posts eines Ortsverbandes einer Partei gesehen. Da ging es ungelogen darum, dass man sich – wörtlich – bei einer Parteireform um das Antragswesen kümmern wolle. Dieses müsse gestärkt werden. Was soll man da noch sagen?
Wer Spaß an diesem politischen Bullshit Bingo hat, sollte sich einmal das Lexikon des Grauens von Benjamin von Stuckrad-Barre durchlesen. Diese Phrasen werden schon von Ortsvereinsvorständen genutzt, einfach weil es sich so sehr nach Politik anfühlt.
Aber mal ernsthaft. Leute, wir brauchen eine einfachere Sprache! In allen Bereichen der Politik. Warum sprichst Du nicht einfach so, wie Du auch mit Deinen Freunden und Deiner Familie sprechen würdest? Erkläre einfach, um was es Dir geht und was Dir wichtig ist.
Ach übrigens: Deine Titel interessieren niemand. Du musst nicht ständig wiederholen, dass Du diese oder jene Funktion hast – oder welcher Partei Du angehörst. Und wenn Du Dich je erwischen solltest, von Dir in dritter Person zu sprechen, tu was!
Zu diesem Thema passt übrigens auch dieser Blogartikel.
Politische Strukturen
Apropos Titel. Zum persönlichen Aufgeilen an Titeln (ja, mir fällt wirklich kein passenderes Wort dazu ein!) gehört auch das Verharren in vermeintlich wichtigen Strukturen. In den Parteien haben sich über die Jahrzehnte Strukturen gebildet, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. Ein Beispiel: Ich habe einen Stadtverband einer großen Partei beraten. Teil des Stadtverbandes waren mehrere Ortsverbände. Die Stadt hat deutlich unter 100.000 Einwohner. Als ich vorgeschlagen habe, dass dieser Stadtverband gemeinsam eine Internetseite und einen Facebook-Auftritt haben solle, war der Protest groß. Die Souveränität der Ortsverbände sei damit in Frage gestellt – und, natürlich – „die Fraktion ist ja eigenständig“. Gerade „die Fraktion“ ist immer ganz wichtig. Überall betonen die Fraktionen, ob in Gemeinderäten oder Kreistagen oder wo auch immer, wie sehr sie eigenständig gegenüber „der Partei“ seien. Was in aller Welt soll das? Nein, Stopp. Ich weiß ja leider, was das soll.
All diese Gremien dienen der Posten- und Zuständigkeitsbeschaffung. Wenn es in einer Stadt fünf Ortsverbände und einen Stadtverband gibt, kann es auch sechs Vorsitzende geben. Und selbstverständlich der Fraktionsvorsitzende. Aber es schreckt ab! Leider sind das ja nicht nur interne Konstrukte – die werden ganz offensiv nach aussen getragen. Es wird mit Wonne von „Verbänden“ gesprochen, von Vorstandswahlen, und so weiter. Die Menschen sehen aber dennoch nur EINE Partei in dieser Stadt, die sich vornehmlich mit sich selbst beschäftigt. Wozu braucht – um ein anderes Beispiel konkret zu benennen – eine Stadt wie Bochum einen SPD-Unterbezirk, sechs SPD-Stadtbezirke und 38 SPD-Ortsvereine? Dazu kommen die Ratsfraktion und sechs Stadtbezirksfraktionen und diverse Arbeitsgemeinschaften. Bei der CDU ist es übrigens das genauso… Verwirrend, oder?
Veranstaltungen
Ich möchte einen Schritt weiter gehen. In den höchsten Ebenen der Politik haben sich bestimmte Auftrittsformen mit festen politischen Ritualen durchgesetzt. Bei Veranstaltungen gibt es ein Podium, auf dem die hohen Damen und Herren sitzen und die einfachen Delegierten oder Mitglieder sitzen wie ein Publikum aufgeregt davor. Spitzenpolitiker haben natürlich immer ein Rednerpult, an dem starre Reden geschwungen werden. Und viele Veranstaltungen tragen Namen, die sie nicht mal im Ansatz verdienen. Zum Beispiel Themenwerkstatt. Kennst Du das? Da werden ein paar Menschen eingeladen, die in der internen Hierarchie als wichtig angesehen werden. Dann gibt es eine Art Podium, auf dem diese Leute langweilige Phrasen dreschen dürfen. In einer Fragerunde wird das Publikum scheinbar einbezogen – „aber bitte nur 3 Fragen, die Zeit ist schon so voran geschritten“. Am Ende wird gesagt, was für eine spannende Veranstaltung das doch gewesen sei.
Kommt Dir davon einiges bekannt vor? Bestimmt! Und jetzt frage ich Dich: Kennst Du diese Rituale auch von irgendwo anders her, gar aus der „anderen Welt“ außerhalb der Politik? Na klar! Dir werden diese Formen immer dann begegnen, wenn Menschen möglichst wenig beteiligt werden sollen. Dann wird das regelrecht als Werkzeug von der Politik ausgeliehen. Schau Dir mal Aktionärsversammlungen an. Die sehen verdächtig nach Parteitagen aus. Auch da wird Beteiligung simuliert.
Politische Rituale simulieren Wichtigkeit
Das Drama ist, dass diese Formate und Verhaltensweisen aber ins Fleisch und Blut aller politisch Aktiven übergegangen sind. Es wird mit „wichtig“ und „erfolgreich“ assoziiert – und daher schon auf unterster Ebene nachgeahmt. Es werden schon Stadtverbandsparteitage nach dem gleichen Muster abgehalten, Vorstände präsentieren sich vorne mit quer gestellten Tischen und das gruselige Format der Podiumsdiskussion wird immer und immer wieder versucht. Aber außer den eigenen Parteifreunden kommt aber halt kaum jemand. Das vermeintlich wichtige wird so leider nur simuliert.
Auf die Menschen da draussen wirkt das alles fürchterlich abschreckend! Das, was uns als wichtig und toll vorkommt, finden die meisten anderen Menschen nur nervig, langweilig und distanziert. Sie fühlen sich zurecht außen vor.
Deshalb: Bitte, mach Schluss mit dem wichtig nehmen. Veranstaltungen kann man anders gestalten, Titel weglassen und Bürgerinnen und Bürger können sogar ernsthaft einbezogen werden. Dafür muss man aber zuhören können – und sich nicht nur auf einem Podium selbst präsentieren wollen.